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Zwischen Hoffnung und Trauer

 

Uneindeutiger Verlust und Trauer

Bei Trauer und Verlust denken wir zuerst an den Tod uns nahestehender Menschen. Trauerprozesse finden aber häufig auch bei anderen Formen des Abschieds oder bei radikalen Veränderungen in unserem Leben statt. Nicht immer erkennen wir, dass wir da trauern „dürfen“ und dass Trauern eine angemessene Reaktion ist. Dies gilt zum Beispiel bei Formen des „uneindeutigen Verlusts“.

Warum die Verarbeitung oder Bewältigung im Falle von „uneindeutigen Verlusten“ besonders schwerfällt, darüber haben wir mit der Trauerexpertin und Gründerin des Trauerinstituts Deutschland, Chris Paul, gesprochen:

Frau Paul, Trauer wird in unserer Kultur häufig mit dem Thema Tod assoziiert. Was kann Trauern für Familien bedeuten, deren Kind ein tragisches Ereignis, zum Beispiel einen Unfall, überlebt hat?

„Tatsächlich sehen wir Trauerprozesse sehr häufig nur im Anschluss an Verluste durch Tod. Dabei wissen wir heute, dass auch Verluste durch Trennungen – durch den Verlust von Lebenshoffnungen und Lebensperspektiven – tiefgreifende Trauerprozesse auslösen. Familien, in denen ein Kind mit schweren Schädigungen ein tragisches Ereignis oder einen Unfall überlebt hat, sind häufig zunächst nicht mit einem eindeutigen Verlust konfrontiert. Zumindest in den ersten ein, zwei Jahren wissen die Eltern nicht: Ist das apallische Durchgangssyndrom – das Wachkoma – tatsächlich ein Durchgangszustand, an dessen Ende ein weitgehend gesundes Kind stehen wird, oder ist das ein Zustand, der über viele Jahre anhalten wird.

Das heißt, die Verluste, um die man trauern könnte, sind in den ersten Monaten und Jahren nicht klar definiert. Wir bezeichnen das als nicht gesicherte oder uneindeutige Verluste, um die man eigentlich nicht trauern kann, weil man immer noch auf Besserung wartet. Der Trauerprozess kann erst einsetzen, wenn ein Moment des Erkennens eintritt, dass etwas hier auch ein Stück unwiederbringlich vorbei ist. Ich glaube, dass in den ersten ein, zwei Jahren auf jeden Fall Gefühle wie Traurigkeit, wie Wut, wie Sehnsucht nach dem vorherigen Zustand vorkommen. Ich glaube auch, dass es vielleicht möglich ist – im Rahmen all der Dinge, die man für die Versorgung des Kindes tun möchte und tun muss –, Räume zu finden, in denen diese Gefühle auch mal Zeit haben. Meiner Meinung nach setzen aber umfängliche Trauerprozesse erst dann ein, wenn die Familien eine größere Klarheit darüber haben, wie es mit dem Kind weitergeht.“

„Die Ärzte haben uns damals keine Hoffnung mehr gemacht. Man sagte uns, wenn er das überhaupt überlebt, wird er nicht mehr der Silas sein, der er mal war. Aber mit den ganzen Aussagen konnten wir nichts anfangen und wir wussten überhaupt nicht, was das bedeutet.“

Mutter eines Sohnes mit schwerer Hirnschädigung nach Enzephalitis

Illustration Trauer

Neben der Unklarheit über die Genesung und Entwicklung des Kindes, die anfangs häufig für eine lange Zeit besteht, bringt auch die Art des Krankheitsbildes selbst einen Aspekt der Uneindeutigkeit mit sich. Bereits im umgangssprachlichen Namen ist diese Gegensätzlichkeit enthalten – das Kind ist „wach, aber komatös“.

Von einem uneindeutigen oder ungesicherten Verlust spricht man, wenn

  • jemand körperlich abwesend ist, aber kein Abschied möglich war oder keine Gewissheit über sein Leben/seinen Tod/seinen Verbleib besteht (zum Beispiel Vermisste, Kriegsgefallene) – „leaving without good-bye“,

oder

  • jemand körperlich anwesend ist, aber psychisch oder emotional abwesend ist beziehungsweise nicht erreicht werden kann (zum Beispiel Koma, Demenz, Depressionen) – „good-bye without leaving“ (Abschied ohne Verlassen).

Wenn Menschen einen Verlust bewältigen müssen, der uneindeutig ist, sind sie mit einer ambivalenten Situation und ambivalenten Gefühlen konfrontiert. Hier sind Hoffnung und zunehmende Gewissheit mitunter wie zwei Pole, die in unterschiedliche Richtung zu wirken scheinen. 

Illustration Hoffnung

Hoffnung kann ein Motor sein, egal ob sie sich auf die vollständige Gesundung des Kindes bezieht, auf Zwischenziele, auf kleine Erfolge oder sich in einem Vertrauen darstellt, „… dass es so, wie es ist, gut werden kann“.

Zunehmende Gewissheit bringt gleichzeitig den Nährboden für wichtige Trauerprozesse. Abschied zu nehmen von bestimmten Vorstellungen, Wünschen und Perspektiven – letztlich von dem gesunden Kind, wie es war – bedeutet, das Kind zu betrauern, und ermöglicht ein stückweises Annehmen dessen, was ist.

In diesem Spannungsfeld haben wir jedoch auch erleben dürfen, wie sich die Kräfte der Angehörigen mobilisierten und ihre Lebensqualität wieder anstieg. 

Unsere frühere Kollegin Gudrun Streit, Mutter der Zwillinge Lisa und Oskar, die vor vielen Jahren im Kleinkindalter gemeinsam einen Beinahe-Ertrinkungsunfall erlitten haben, berichtet über ihre Trauer. Lisa hat sich damals nach kurzer Zeit wieder vollständig erholt, während Oskar sich über einige Monate im Zustand Wachkoma befand und bis heute schwerere Langzeitfolgen zurückbehalten hat.

„Dieser Schmerz über den plötzlichen Verlust der gesunden Kinder war so groß, dass wir uns nur ‚in Portionen‘ getraut haben uns diesen Schmerz anzuschauen aus Angst, handlungsunfähig zu werden. Trotzdem haben wir beide unabhängig voneinander Methoden benutzt, uns so schnell wie möglich dieser Trauer zuzuwenden, da wir beide intuitiv gespürt haben, wie wichtig das ist, um weitermachen zu können. […]

In den Momenten, in denen ich mich vollständig von Traurigkeit überwältigt fühlte, war es ein großer Trost, alle meine Kinder täglich um mich zu haben, auch wenn die Belastung gerade in der ersten Zeit riesengroß war. Dass ich relativ schnell nach circa einem Jahr begonnen habe, über uns zu schreiben und kleine Artikel zu veröffentlichen, hat mir geholfen, unser Schicksal in einem größeren Kontext zu sehen und zu empfinden und mich mit den Schicksalen anderer zu verbinden. So hat unser Unglück aufgehört, sich so unerhört besonders anzufühlen.

Es gibt auch immer wieder Initiationszeiten, in denen sich Trauer plötzlich wieder in einem neuen Gewand zeigt. Der Jahrestag des Unfalls, die Zwillingsgeburtstage […]. Ich habe mich daran gewöhnen müssen und bin immer mehr darauf vorbereitet.“

 

Trauer benötigt Zeit und Raum. Sie wird durch Rituale erleichtert und unterstützt. Dieses wird durch den Pflegegalltag erschwert, in dem häufig Zeit und Raum fehlen. Es ist empfehlenswert, kleine Zeitinseln zu schaffen, in denen Sie sich dem Abschied von dem, was Sie verloren haben, zuwenden können. 

Rituale können sein:

  • Sich regelmäßig hinsetzen und einige Zeilen an Ihr Kind schreiben und auf diese Weise Ihre Gefühle mitzuteilen.
  • Symbole für das Verlorene finden und ihnen einen Ort geben – den können Sie aufsuchen, um dort ganz bestimmten Gefühlen Raum zu geben.
  • An festen Trauerangeboten teilnehmen.
 

„Trauer ist eine gesunde Reaktion unseres Organismus, der sich schützen will, um Ruhe und Zeit zu haben, die Wunde heilen zu lassen und zu verstehen, wer wir waren, wer wir jetzt sind und in Zukunft sein werden.“

Dr. phil. Heike Goebel, unter anderem Psychotraumatologin und Kunsttherapeutin, Bammental

Illustration Schreiben

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