Geschwisterkinder

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„Leider haben wir damals oft zu wenig Zeit für sie gehabt. Wir, Reinhard und ich, bildeten als Paar eine Einheit. Nadja stand leider oft außen vor mit ihren Sorgen und Ängsten. Man wollte sie als achtjähriges Mädchen nicht übermäßig belasten.

Also war sie meist bei ihren Großeltern oder ihrer Freundin, während wir zusammen bei ihrem Bruder saßen. Wir wussten wenigstens immer, wie es ihm ging, auch wenn es ihm schlecht ging. Nur mit unserer Tochter sprach kaum einer ein offenes Wort.

Sie war mit ihren unendlich großen Ängsten allein gelassen. Heute wissen wir es besser, aber so ist es ja oft im Leben.“

Eltern eines Kindes, das durch ein plötzliches Ereignis eine schwere Hirnschädigung erlitten hat, haben in der ersten Zeit mit intensiven und oft sehr schmerzhaften Gefühlen zu kämpfen. 

In dieser Zeit gilt es erst mal zu funktionieren, zu begreifen, Entscheidungen zu treffen, da zu sein, zu streicheln, anzusprechen, vorzulesen. Und selber zu schlafen und zu essen, um bei Kräften zu bleiben. Auch um die Geschwisterkinder kümmern die Eltern sich und sorgen dafür, dass diese umsorgt werden und gute Betreuungspersonen bereitstehen. Eine Woche bei Oma ist zum Beispiel eine wichtige Entlastung für die ganze Familie. Das ist normal und kann kaum anders gehen.

Später, wenn die Familie wieder aus der Klinik zu Hause ist, haben Eltern häufig alle Hände voll zu tun, um dem Unterstützungsbedarf ihres erkrankten Kindes gerecht zu werden.

Gleichzeitig sind die Gedanken der Eltern selbstverständlich auch immer wieder beim Geschwisterkind, und es tauchen Fragen auf wie: Wie erlebt mein Kind diese Situation? Mein Gefühl sagt mir, ich soll mein Kind schonen – ist das richtig? Wie soll ich Worte finden? Darf ich mir Unterstützung holen oder ist das Abschieben? Worauf muss ich achten?

Wir haben Marlies Winkelheide besucht, eine Expertin für Geschwister von Kindern mit schwerer Behinderung oder Erkrankung. Ihre jahrzehntelange Arbeitserfahrung auf diesem Gebiet schlägt sich in einem vielfältigen Seminarangebot und in der Geschwisterbücherei nieder, die Marlies Winkelheide 2009 eröffnet hat und die mit über 5.000 Büchern wohl die größte Literatursammlung zu diesem Thema in Deutschland ist.

In den Räumen dieser Geschwisterbücherei hat uns Marlies Winkelheide freundlicherweise zu einem Interview empfangen. Ihre Antworten auf unsere Fragen geben anschauliche Hilfe und können ratsuchenden Eltern vielleicht einige Unsicherheiten nehmen.

Marlies Winkelheide
  • Sozialwissenschaftlerin und seit 1976 in der Bildungsarbeit tätig, mit Menschen mit Behinderungen, mit Familien, mit Geschwisterkindern
  • zahlreiche Veröffentlichungen zum Thema Geschwisterkinder
  • Begründerin der Geschwisterbücherei in Lilienthal bei Bremen (www.geschwisterbuecherei.de)

Marlies Winkelheide schildert, wie sie zum Thema Geschwisterkinder kam:

Mir war schon früh klar, als ich in der Bildungsarbeit mit Menschen mit Behinderung begann, dass wir die Familien dazu holen müssen. Wir haben dann Familienseminare angeboten. Irgendwann kamen die Eltern und sagten: „Macht doch etwas für die Geschwisterkinder. Die reden doch noch mal ganz anders, wenn wir nicht dabei sind.“

So begannen wir. Beim ersten Seminar 1982 hatten wir 21 Teilnehmende. Es war so spannend, dass wir seitdem Geschwisterseminare anbieten.

Ein weiterer Grund war, dass ich selbst Geschwisterkind bin. Als ich 18 war, haben wir 5 Kinder aus dem Krieg in Vietnam in unsere Familie aufgenommen. Diese Kinder waren schwer kriegsverletzt, hatten Behinderungen erlitten oder waren einfach nicht behandelt worden. 2 der 5 Kinder starben, und die 3 anderen sind nach einer kurzen Rückkehr nach Vietnam heute mit ihren leiblichen Eltern hier ganz in der Nähe meines Wohnortes ansässig.

Die 3 sind auch jetzt noch meine Brüder. Einer hat eine Tetraplegie, einer ist durch eine Kinderlähmung beeinträchtigt und der dritte ist hörbehindert. Wir leben seit den 1970er Jahren als deutsch-vietnamesische Familie zusammen. Ich denke, das hat mich besonders offen für das Thema gemacht.

Selbstverständlich habe ich meinen persönlichen Hintergrund als Geschwisterkind therapeutisch begleitet reflektiert. Von meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern erwarte ich ebenfalls, dass sie bereit sind, an ihrer Biografie zu arbeiten. Das muss aber nicht unbedingt ein therapeutischer Prozess sein.