Geschwisterkinder

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Frau Winkelheide, zunächst einmal herzlichen Dank, dass Sie uns zur Verfügung stehen und Ihre langjährige Erfahrung mit uns teilen. Sie sind seit vielen Jahren in der Arbeit mit Geschwisterkindern tätig. Sie haben, wenn ich das so sagen darf, Expertinnenwissen angesammelt.

Würden Sie uns zu Beginn erklären, was das Besondere an der Situation von Kindern ist, die eine Schwester oder einen Bruder mit schwerer Behinderung oder Erkrankung haben? Wie werden Kinder durch eine solche Situation geprägt? Kann man davon sprechen, dass Kinder, die solche Erfahrungen machen, Gemeinsamkeiten entwickeln?

Aus meiner Sicht gibt es einige Gemeinsamkeiten, die durch diese Situationen entstehen und die sich trotz der selbstverständlichen individuellen Unterschiede häufiger bei Geschwisterkindern erkennen lassen. Ich glaube, dass diese Kinder sehr sensibel sind und dass sie sich gut in andere Menschen einfühlen können. Diese Erfahrung habe ich wiederholt gemacht.

Geschwisterkinder (hier immer als Geschwister von Kindern mit schwerer Erkrankung oder Behinderung gemeint) haben zum Teil sehr früh gelernt, mit anderen Lebensformen zu leben. Das macht sie sozial sehr aufmerksam. Das ist einerseits ein großes Potenzial, kann andererseits aber auch als erschwerend erlebt werden. So könnte ihr Verhalten in Schulklassen zum Beispiel leicht ausgenutzt werden, weil sich diese Kinder für alles verantwortlich fühlen. 

Geschwisterkinder können sich aus meiner Erfahrung besser in ein anderes Leben hineindenken als andere Kinder in ihrem Alter. Sie sind in diesem Punkt oft weiter oder fähiger. Teilweise sogar auch fähiger dazu als manche Erwachsene, was nicht selten dazu führt, dass Erwachsene Angst haben, sie zu begleiten.

Ein weiterer Punkt ist – und das ist in keiner Weise negativ gemeint –, dass sie mit unterschiedlichen Zeitbudgets ihrer Eltern für die erkrankten oder behinderten Geschwister und sich selber umgehen müssen. Auch das verbindet sie miteinander. Aus vielen Erzählungen von Geschwisterkindern weiß ich außerdem, dass sie ein Gefühl der Einsamkeit kennen.

Aus meiner Sicht ist eine ganz wichtige Gemeinsamkeit, dass sie viele Fragen haben, die sich um die großen Themen drehen. Gerechtigkeit zum Beispiel ist ein sehr häufiges Thema.

Ist es gerecht, dass ich gesund bin, mein Bruder oder meine Schwester aber krank? Was bedeutet überhaupt Gerechtigkeit im Leben eines Menschen mit einer schweren Erkrankung oder Behinderung? Ist es ungerecht, wenn ich eifersüchtig bin?

In diesen Fragen stecken auch oft Schuldgefühle. Wenn Geschwisterkinder sich normal entwickeln, Freude an etwas haben, viele Erfahrungen machen können, die ihr erkrankter Bruder oder ihre Schwester nicht machen können, fühlen sie sich häufig schuldig. Es ist wichtig, diese Schuldgefühle zu beachten und den Kindern Raum zu geben, darüber zu sprechen. Es kann wie eine Erlaubnis wirken, wenn die Eltern sagen: „Du darfst Freude empfinden. Du darfst laufen, springen, lachen, lernen, Fähigkeiten haben, die deine Schwester, dein Bruder nicht mehr haben wird ...“

Eine ganz wesentliche Prägung, die Geschwister von schwer kranken Kindern erfahren, ist, dass sie häufig zu Hause nicht lernen können, sich zu wehren. Das gilt natürlich insbesondere für Familien mit 2 Kindern. Wenn die Schwester/der Bruder so schwer erkrankt oder behindert ist, dann haben sie keine Möglichkeit zur „Rangelei“ (körperlichen Auseinandersetzung). Es werden keine typischen und ganz normalen Geschwisterkämpfe ausgetragen. Stattdessen lernen sie, Rücksicht zu nehmen. Das kann im späteren Verlauf ihres Lebens zu Schwierigkeiten führen. Welches Verhalten ist angemessen, wenn man sich wehren will? Hier ist es eine gute Möglichkeit, dies in Geschwistergruppen sozusagen nebenbei zu üben. Da kann man sich auch mal rangeln oder man findet einen „älteren Bruder“, der nicht krank ist oder eine „jüngere Schwester“ und kann beobachten „Wie ticken eigentlich so kleine Mädchen?“.

Dennoch muss man genau hinsehen, wenn Schwierigkeiten entstehen. Was führt in dieser speziellen Familie bei diesem Kind dazu? Worauf will es aufmerksam machen? Was gibt es für zusätzliche Faktoren? Zum Beispiel Arbeitslosigkeit oder Wechsel des Wohnorts oder anderes können hinzukommen und Ängste und Sorgen auslösen. Auffälliges Verhalten kann – muss aber nicht – im Zusammenhang mit der Erkrankung oder Behinderung des Geschwisterkindes stehen. Den Gedanken sollte man zulassen können.

Kinder versuchen möglicherweise über „Auffälligkeiten“ ihren Eltern etwas mitzuteilen?

Das kann ich Ihnen am besten anhand eines Beispiels erklären:

In einer Familie mit einem Kind mit einer schweren Behinderung infolge eines Unfalls ist die gesunde Tochter immer unpünktlich nach Hause gekommen. Das war für die Eltern fürchterlich, sie hatten Angst, dass unterwegs etwas passiert ist, besonders, weil ja schon eines ihrer Kinder einen schweren Unfall gehabt hatte.

Die Unpünktlichkeit wurde nicht besser. Alle Uhren haben nichts genützt. Fernsehverbote und Computerverbote ebenso wenig.

Dann hat sie in einem Geschwisterseminar ein Bild gemalt, das sie mir gezeigt hat. Darauf stand sie ganz nah bei ihrer Mutter. Ich bin keine Therapeutin, ich arbeite mit Eindrücken. Ich frage sie, was diese Zeichnung bedeuten soll. Sie antwortet:

„Ich will nah bei Mama sein.“
„Weiß Mama das?“
„Nee.“ (9 Jahre alt, ein bisschen kess.)
„Sollen wir es Mama mal sagen?“
„Ja.“

Wir haben für dieses Gespräch einen Extratermin vereinbart. Die Familie hat 4 Kinder und beide Eltern sind berufstätig. Die Tochter vermittelt ihrer Mutter: „Ich würde gerne eine halbe Stunde pro Woche Zeit von dir haben. Aber ich würde gerne bestimmen, was du mit mir machst.“

Eine halbe Stunde – überlegen Sie mal, was das für ein absehbarer und überschaubarer Zeitraum ist! Das ist viel weniger Zeit als die Mutter darauf verwendet, nach ihrer Tochter zu suchen, sich zu ärgern, Angst zu haben oder Strafen zu kontrollieren.

Die Mutter sagte während des Gespräches leise zu mir: „Jetzt muss ich bestimmt etwas machen, was ich nicht mag.“ Ich habe dann zu ihr gesagt: „Es wäre gut, wenn Sie jetzt nicht sofort sagen würden, dass sie etwas anderes machen möchten.“

Die Tochter wollte gerne Karten und Regelspiele mit der Mutter spielen. Genau die Sorte Spiele, die die Mutter nicht mochte. Trotzdem haben sie sie eine halbe Stunde pro Woche zusammen gespielt. Die Tochter hatte tatsächlich etwas gesucht, was ihre Mama nicht gerne macht.

Eine Erklärung: Die Mutter musste immer den schwerstmehrfachbehinderten Sohn wickeln, 12 Jahre alt. Danach sehnt man sich nicht unbedingt. Das macht man mit der Würde, mit der das geschehen muss und mit der man selber behandelt werden möchte, aber schön ist es nicht.

Die Tochter hat also etwas gesucht, was ihre Mutter auch nicht gerne macht, um zu prüfen, ob sie sie genauso lieb hat wie den Bruder. So als hätte sie gesagt:

„Wenn sie jetzt mit mir etwas macht, was sie nicht gerne macht, dann hat sie mich genauso lieb wie meinen Bruder.“

Die Mutter hat den Wunsch erfüllt, nicht zähneknirschend, sondern interessiert. Das war wichtig. Als die Tochter nach 6 Wochen pünktlich wurde, konnten sie auch schon etwas anderes miteinander machen. Sie hatte sozusagen ihren Beweis, und das Problem der Unpünktlichkeit war gelöst.

Hervorheben möchte ich an diesem Beispiel, dass die Mutter bereits vorher spürte, dass ihre Tochter etwas aussuchen würde, was sie nicht gerne mag. Intuitiv war ihr alles klar, der Weg der Klärung musste aber noch gefunden werden. Die Tochter hatte den Anstoß gegeben, weil sie für sich den Liebesbeweis wollte.

Es klingt schwierig, darauf zu kommen, was das Mädchen seiner Mutter sagen wollte. Wenn ich Sie richtig verstehe, geht es darum hinzusehen, offen zu sein und sich auch Hilfe zu holen. Die Wünsche, die Kinder äußern, sind in der Regel überschaubar oder verhandelbar. Es ist an erster Stelle wichtig, Interesse für sie zu zeigen.

Genau. Wenn man weiß, dass Kinder solche existenziell wichtigen Fragen haben wie in diesem Beispiel: „Hat meine Mutter mich genauso lieb wie meinen Bruder?“, dann lassen sich manche Verhaltensweisen leichter erklären oder man hat mehr Bereitschaft und Neugierde, dahinterzukommen, was die Kinder damit erreichen wollen. Kinder wollen die Eltern nicht zusätzlich belasten. Sie wollen ernst genommen und gesehen werden. Ich empfehle immer:

„Schenken Sie Ihrem Geschwisterkind hin und wieder Momente ungeteilter Aufmerksamkeit.“

Die Betonung liegt hier auf ungeteilt. Das heißt zum Beispiel ohne piepende Geräte im Hintergrund, die dann doch vom Spiel ablenken. Damit geben die Eltern ihrem Kind schon sehr viel. Ein sehr anschauliches Beispiel hierfür ist folgende Geschichte:

Eine Familie, die hier in der Gegend lebt. Das Mädchen nahm bei uns an einem Wochenseminar teil. Sie wollte plötzlich unbedingt nach Hause, hatte Heimweh. Wir haben dann einen Tag lang versucht, einen Weg zu finden, dass sie bleiben kann, aber dann ging es nicht mehr. Als ich mit ihr besprochen hatte, dass sie jetzt zu Hause anrufen kann, sagte sie: „Ich rufe nachher an, wenn mein Vater zu Hause ist.“

2 Stunden später rief sie dann zu Hause an und sagte ihrem Vater, dass er sie abholen soll. Als ihr Vater dann bei uns ankam, guckte sie auf die Uhr und sagte: „17,5 Minuten, das reicht.“

Ich kenne die Entfernung und Strecke und weiß, er muss irre schnell gefahren sein. Ich habe ihm gesagt: „Nehmen Sie Ihre Tochter bitte jetzt schnell mit, weil sie unbedingt nach Hause will, aber bitte kommen Sie irgendwann mal wieder, denn in der Aussage ist eine Botschaft, die wir verstehen sollten.“ Das Mädchen kam tatsächlich wieder, später auch zu weiteren Seminaren.

Und die Erklärung der Geschichte war folgende: Sie hatte einen schwer herzkranken Bruder und wenn dieser einen Krampf hatte oder ins Krankenhaus musste, dann haben die Eltern alles stehen und liegen lassen und sind in ein Spezialkrankenhaus gefahren. Sie hat an diesem Wochenende angerufen, als sie genau wusste, dass ihr Vater von der Arbeit kam und und warmes Abendessen bekam. Bei den 17,5 Minuten wusste sie, dass er nicht erst gegessen hat, sondern sofort losgefahren ist. 

Man kann auch denken: „Dieses kleine Biest!“ Sie hätte doch warten können. Aber sie hat den Beweis bekommen, nach dem sie sich gesehnt hatte. Der Vater ist ja auch tatsächlich sofort und schnell gefahren. Er hätte auch erst essen können. Ich sagte dann zu ihm: „Sie sind aber auch nicht so polizeikonform, verkehrsgerecht gefahren.“ „Nee“, sagt er, „das ist mir in solchen Situationen einfach nicht möglich.“ Manchmal kann man also Wünsche erfüllen ...

In den beiden Beispielen haben die Eltern auch irgendwie intuitiv das gemacht, was die Kinder sich wünschten. Aber ohne die Initiative der Kinder hätten sie das nicht umsetzen können.

Und manchmal ist es auch so, dass Wünsche nicht erfüllt werden können. Das ist nicht schlimm. Ich finde es einfach ganz wichtig, dass Geschwisterkinder ihre Wünsche äußern können. Wünsche sind dazu da, geäußert zu werden. Eltern sollten die Wünsche des Kindes immer anhören und dann mit ihren Möglichkeiten reagieren. Dazu gehört auch das „Nein, das geht nicht. Das geht jetzt nicht“. Und es gilt zu lernen, dass es Wünsche gibt, die nie erfüllbar sind, aber doch immer wieder aufmerksam gehört werden sollten: „Mein Bruder soll ganz gesund werden.“ „Ich möchte, dass die Krankheit aufhört.“

Dass Eltern die Wünsche ihres Kindes nicht sofort umsetzen können, ist aus meiner Sicht ein ganz normaler Umstand. Nachholen lassen sich Wünsche allerdings auch nicht immer. Darauf muss man vorbereitet sein. 

Ich hatte mal ein Mädchen in einer Geschwistergruppe, die sich gewünscht hat, dass die Eltern einen Kindersitter bestellen, damit sie einmal alleine mit ihren Eltern fernsehen kann, genauer, eine Schnulze gucken und ungesunde Chips essen kann. Das ist ja eigentlich eine erfüllbare Sache. Die Situation ist nie gekommen. Ihr Bruder – in diesem Falle sehr beweglich – hat immer geahnt, dass er nicht stören sollte. Genau das hat er aber dann getan. Die Eltern haben sich schon bemüht, es war aber leider nie ungestört. Jetzt ist die Zeit vorbei. Der Bruder lebt heute in einer Einrichtung und für das Mädchen hat sich dieser Wunsch inzwischen erledigt. Ich habe zu den Eltern und dem Mädchen gesagt: „Das ist jetzt nicht so schlimm. Es ist, wie es ist, und nicht zu ändern. Der Wunsch wurde gehört, es hat Bemühungen gegeben, mehr war leider nicht drin.“

Es gilt, Kindern gegenüber aufmerksam zu sein und deren Situation realistisch zu sehen. In den Geschwistergruppen gibt es derzeit eine Lieblingskarte, darauf steht: „Ja, das hast Du gut gemacht!“ oder eine andere: „Ich bin stolz auf Dich!“

Etwas, was Eltern tun können, ist, den Kindern ab und an Anerkennung dafür zu geben, was sie aushalten. Im Sinne von:

„Ich bin stolz auf dich, weil du das mit mir aushältst.“

Ich glaube, Offenheit und Ehrlichkeit der Eltern helfen sehr viel weiter. Ruhig auch mal die offene Frage zu stellen: „Was wünschst Du Dir denn wirklich von mir?“ Wenn Kinder lernen, dass Eltern bereit sind, das zu erfüllen, wünschen sie sich nichts Unmögliches.

Können Sie uns Ihre Sicht auf die besondere Situation unserer Familien beschreiben? Familien, deren Kind durch einen Unfall oder ein plötzliches Ereignis schwere Beeinträchtigungen erlitten hat.

Ich denke, für Familien, deren Kind durch ein solches Ereignis von Behinderung betroffen ist, gibt es zunächst die Phase des Schocks. Das geht gar nicht anders. Die Eltern sitzen da im Krankenhaus und begreifen selber erst mal kaum, was das jetzt bedeutet, dass ihr Kind diesen Unfall hatte.

Ich glaube, das ist die Phase, in der man auch möglicherweise vergisst, den anderen etwas zu erklären. Es fehlen einem noch die Worte. Eltern müssen hier aus meiner Sicht kein großes Vorbild sein, indem sie etwas sagen wie: „Wir schaffen das schon“, wenn sie in dem Moment selber noch gar nicht dran glauben. Aber es hilft schon sehr viel in dem Moment, wenn sie stattdessen ihrem anderen Kind oder ihren Kindern offen sagen:

„Ich weiß jetzt im Moment auch nicht weiter. Aber wir wollen hoffen, dass wir das als Familie schaffen.“

Ich empfehle, auch und besonders in solch schwierigen Lebenssituationen offen und authentisch mit Kindern zu sprechen. Es hilft nicht, so zu tun, als könnte man das alles souverän meistern. Kinder spüren sowieso die Angst und Unsicherheit ihrer Eltern. Das gehört dazu.

In dieser Phase könnten Eltern zu ihren Kindern beispielsweise sagen: „Für mich ist das alles jetzt auch genauso neu wie für dich. Möglicherweise kann es sein, dass wir jetzt nicht so gut auf dich achten können. Sag uns bitte Bescheid, wenn es so ist. Und wenn wir dich zur Betreuung jetzt häufiger abgeben, ist das nicht, weil wir dich weniger mögen, sondern weil wir es einfach nicht anders wissen.“

Gibt es Besonderheiten in Bezug auf Geschwisterkinder, auf die man achten muss, wenn in der Familie eine Erkrankung so plötzlich eintritt? Im Vergleich zu einer Erkrankung, die sukzessive entsteht, oder zu der Situation, dass ein Kind in eine Familie geboren wird, in der es schon ein erkranktes Kind gibt.

Ich glaube, da gibt es schon Besonderheiten. Die Phase des Schocks zum Beispiel, die ich gerade beschrieben habe, wird in diesen Familien besonders stark ausgeprägt sein.

Aus Sicht eines Kindes kann sich in dieser besonderen Situation Folgendes ergeben. Wenn ein Kind erlebt hat, dass die Schwester/der Bruder zum Beispiel beinahe ertrunken ist oder einen Verkehrsunfall erlitten hat, könnte es daraus folgern, dass ihm ein solcher Unfall ebenfalls passieren kann. Das ist eine besonders heikle Frage, die Kinder aber möglicherweise erst mal eine ganze Zeit nicht stellen, da sie ja die Eltern nicht noch mehr beunruhigen möchten.

Sollte diese Frage dann irgendwann gestellt werden, können Eltern im Prinzip nur sagen: „Das hoffen wir nicht, so etwas passiert sehr selten.“ Sie nehmen die Angst ernst und versuchen sie abzuschwächen.

Ich empfehle, wenn Eltern so etwas widerfährt und sie feststellen, dass sie die Situation ihres gesunden Kindes im Moment nicht überblicken können, dass sie sich verbindliche – und das ist mir ganz besonders wichtig –, verbindliche Ansprechpersonen suchen, zu denen ihr Kind auch mit Fragen und Themen hingehen kann. Das ist kein Versagen der Familie, sondern das ist eine Unterstützung, die meiner Erfahrung nach wirklich wieder in die Familie zurückkommt.

Die Familien, die wir begleiten, haben ein Kind mit schwerer Hirnschädigung. Ein Zustand, der auch für Erwachsene viele Fragen aufwirft. Was würden Sie diesen Eltern empfehlen, wie sie ihren gesunden Kindern gegenüber die richtigen Worte finden?

Wie gesagt, glaube ich, dass es hilfreich sein könnte, wenn Geschwisterkinder in solchen Situationen noch zusätzliche Menschen hätten, die ihnen zuhören. Es müssen nicht immer die Eltern sein. Menschen, die ihnen möglicherweise auch das Angebot machen können: „Wenn du was fragen willst, kannst du mich fragen.“ Diese Ansprechpersonen müssen auch nicht von vornherein alles wissen. Ich sage in solchen Situationen auch immer: „Ich weiß nicht, ob ich dir eine Antwort geben kann.“ 

Kinder müssen lernen, und das auch ruhig im frühen Alter, dass es Fragen gibt, die nie eine Antwort finden, und dass es Fragen gibt, die ganz konkrete Antworten haben. Und es gibt Fragen, auf die die Menschen unterschiedliche Antworten geben. Bei den Familien wird es sicherlich auch die Frage geben:

„Was kann ich denn jetzt mit meiner Schwester/meinem Bruder machen?“

Ich würde sagen: „Erzähl ihm/ihr alles, was du magst. Wir wissen nicht, was er/sie versteht. Ich bin davon überzeugt, dass jeder Mensch auf besondere Weise spürt, dass da jemand ist. Nähe ist wichtig. Mach dir keinen Druck. Mach das, wenn du es willst und kannst.“ Nach meiner Erfahrung sind Kinder da ganz toll.

Ein Geschwisterkind erzählte zum Beispiel: „Ich verstehe meinen Bruder immer. Der atmet mit der Haut oder spricht mit der Haut und dann sehe ich, wie die Haut sich verändert.“

Eltern sollten sich in dieser außergewöhnlichen Situation Unterstützung holen. Die familiären Aufgaben möglichst teilen und Hilfe annehmen, für ungeteilte Augenblicke mit dem Geschwisterkind sorgen und weitere Ansprechpersonen ermitteln, das sind Empfehlungen, die ich wirklich geben kann. Und die unterstützenden Ansprechpersonen oder Angebote für die Geschwisterkinder müssen abgestimmt sein und verbindlich!

Sie empfehlen, realistisch, offen und authentisch mit Geschwisterkindern umzugehen.

Ja, Offenheit ist das Wichtigste bei allen Erkrankungen. Eltern sagen oft, dass sie nicht vor ihrem Kind weinen wollen. Das ist unter Umständen sogar belastender, wenn die Eltern das nicht tun und die Kinder es doch spüren. Ich erfahre immer wieder, dass die Kinder ohnehin wissen, was ihre Eltern fühlen. Weil sie die Kinder ihrer Eltern sind und deren Gefühlswelt kennen.

Da gibt es einen schönen Eintrag in unserem Gästebuch in der Geschwisterbücherei: „Wir kamen, um zu fragen, wann es Zeit ist, unserem Sohn zu sagen, dass er einen behinderten Bruder hat. Wir gingen mit der Auffassung, dass er es schon weiß und wir nur die Situation schaffen müssen, dass wir gemeinsam darüber sprechen. Und fast war es im Wegfahren, dass er gefragt hat. Er war 4 und hat es schon gewusst.“

Wenn Eltern bereit sind und in gewisser Weise ausstrahlen, dass gefragt werden kann, dann werden die Fragen auch gestellt.

Authentisch zu sein ist abhängig davon gemeint, wie weit die Eltern schon selber bereit sind, die Wahrheit anzuerkennen. Ganz am Anfang zum Beispiel sind sie sprachlos, und das dürfen sie auch sein. Ich glaube nicht mal, dass Geschwisterkinder fragen: „Warum weinst Du?“ Ich vermute, dass die Geschwisterkinder sich erst einmal zurückziehen.

Und wenn sie es doch fragen, dann können Eltern wie gesagt ruhig antworten: „Wir sind traurig. Wir wissen auch nicht, wie es weitergeht. Wir müssen jetzt auf die Ärzte hoffen und alles tun, was wir tun können.“ Mehr kann man doch nicht sagen.

Das Gleiche gilt übrigens auch für das erkrankte Kind selber. Eltern sprechen hoffentlich auch mit ihrem erkrankten Kind offen: „Wir wissen jetzt nicht, was bei dir ankommt, aber es ist etwas passiert …“ Das ist auch gut für die eigene Gefühlswelt. Ich glaube nicht, dass Kinder geschont werden sollten. Ich glaube, Kindern sollte Mut gemacht werden, ihre Fragen zu stellen.

Man darf in Ihren Augen also Kindern diese Belastung zumuten?

Ja, in meinen Augen darf man das. Wir können die Belastung ja nicht wegnehmen.

Sie ist da. Jeder spürt das, Kinder besonders. Und das Leben ist belastend in manchen herausfordernden Situationen. Die Eltern werden gerade am Anfang auch gar keine Zeit haben, eine Belastung zu verhindern. Man könnte auch nicht sagen, dass es bestimmte Dinge gibt, die Eltern tun können, damit ihr Kind nicht überlastet wird. Die Eltern wissen ja nicht, was auf sie zukommt.

Hilfreich ist es generell, wenn Kinder lernen, wie man mit schwierigen Situationen umgehen kann. Dass jeder von uns nach Lösungen sucht und sein Bestes gibt. Ein Beispiel:

Da sind 2 Kinder, die erlebt haben, dass der Bruder mit dem Hubschrauber wegen eines bedrohlichen epileptischen Anfalls ins Krankenhaus gebracht wurde und Mama mitkam. Papa war nicht da, und Oma und Opa brauchten 20 Minuten, bis sie vor Ort waren. Als die Kinder mir dies erzählt haben, habe ich sie gefragt: „Was habt ihr denn da gemacht?“ „Wir haben den Fernseher angemacht.“

Das finde ich toll an Kindern. Da gerät die Welt aus den Fugen und sie suchen sich etwas, das normal ist und funktioniert – wenn gerade nichts anderes mehr funktioniert. Das sind oft technische Geräte. Diese Möglichkeit der Bewältigung habe ich aus Geschichten von Kindern gelernt, die sie mir so erzählt haben.

Und ihre Mutter hatte ja keine Wahl. Sie musste ihren 5 und ihren 7-jährigen für 20 Minuten alleine lassen. Das hätte sie nicht freiwillig getan, sondern ausschließlich, um das Leben des anderen Kindes zu retten. Das ist eine belastende Situation.

Wichtig ist auch noch zu wissen, dass Kinder viel aushalten. Sie haben eine andere Realität als Erwachsene. In dem Moment, in dem wir Erwachsene schon denken: „Wie wird sich unser Leben jetzt dadurch ändern?“, haben Kinder erst mal nur den Moment. Sie haben die Sorge: „Mama ist weg und Oma und Opa sind noch nicht da. Und ich hab Angst, dass mein Bruder sterben könnte.“ Dann brauchen sie Sicherheit wie etwa durch den funktionierenden Fernseher, der in dem Moment gegen die Angst hilft. Kinder finden ganz eigene Strategien.

Ich glaube auch, dass Kinder so früh wie möglich ihre Geschwister sehen sollten.

Alles, was man sieht, kann man besser begreifen.

Diese Beispiele empfinde ich als sehr hilfreich. Ist es gut, sich an den Geschichten anderer zu orientieren?

Ja, ich benutze viele dieser Beispiele in meiner Arbeit. Es entstehen dann Ideen, welche Gedanken man mitunter mitlaufen lassen kann. Oder wo manchmal Antworten oder Lösungen verborgen liegen. Ich erlebe häufig, dass Eltern, die diese Geschichten hören, sich ein wenig öffnen und entspannen können.

Vielleicht können sie nach Unterstützung fragen oder haben eigene Ideen, was sie machen und ausprobieren möchten, um ihr gesundes Kind in seiner Geschwisterrolle zu unterstützen. Ich sage Eltern immer wieder: 

„Tun Sie nur das, wovon Sie überzeugt sind.“

„Ich möchte, dass man versteht, dass kein Buch, kein Arzt (oder Pädagoge*) den eigenen aufmerksamen Gedanken, die eigene genaue Betrachtung ersetzen können."