Schwere erworbene Hirnschädigungen und Wachkoma

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Definition

Professor Dr. med. Hans-Jürgen Christen, Beiratsmitglied der Lumia Stiftung, erläutert den Zustand Wachkoma aus dem Blickwinkel seiner langjährigen Arbeit als Chefarzt der Neuropädiatrie des Kinderkrankenhauses Auf der Bult in Hannover mit folgenden Worten:

„Wir verstehen unter ‚Wachkoma‘ ein komplexes Krankheitsbild infolge einer schweren erworbenen Hirnschädigung. Beim ‚Wachkoma‘ sind einerseits lebenswichtige Funktionen des Kindes erhalten, wie Atmung, Kreislauf, Stoffwechsel und Schlaf-Wach-Rhythmus. Und auch die Augen sind zeitweise geöffnet – das Kind wirkt ‚wach‘.

Andererseits sind beim ‚Wachkoma‘ Wahrnehmung, Kontaktfähigkeit und bewusste Steuerung schwer beeinträchtigt. Blickkontakt, Sprechen und sinnvolle Bewegungen sind zumindest vorübergehend unmöglich – das Kind ist ‚komatös‘.

Gleichwohl ist ein Zugang zu dem schwer kranken Kind häufig auf einer elementaren Ebene von Wahrnehmung und Kommunikation möglich. Dauer des ‚Wachkomas‘, Entwicklungspotenzial und Erkrankungsverlauf sind im Einzelfall sehr verschieden und somit schwer vorhersehbar.“

Prof. Dr. med. Hans-Jürgen Christen, Neuropädiater und Beiratsmitglied der Lumia Stiftung

Ursache für eine schwere erworbene Hirnschädigung bei einem Kind, Jugendlichen oder jungen Erwachsenen ist häufig eine Schädel-Hirn-Verletzung („Schädel-Hirn-Trauma“) oder ein Sauerstoffmangel („Hypoxie“). Des Weiteren treten in dieser Altersgruppe auch Ursachen wie z. B. Infektionen, Hirnblutungen oder Schlaganfälle auf.

Ein Schädel-Hirn-Trauma ist eine Kopfverletzung durch äußere Gewalteinwirkung, die in schweren Fällen sowohl zu einer direkten Zerstörung von Gewebe im Gehirn führt als auch weitere potentiell schädigende Folgen verursacht. Beispielsweise kann eine Erhöhung des Hirndrucks auftreten, dem in der Regel mit einer chirurgischen Öffnung des Schädelknochens begegnet wird, um Raum für das erhöhte Volumen zu schaffen. Schädel-Hirn-Traumata im Kindesalter beruhen zumeist auf Verkehrsunfällen oder Stürzen. 

Ein durch Sauerstoffmangel verursachter Hirnschaden wird als Hypoxie, hypoxischer Hirnschaden oder hypoxisch-ischämische Enzephalopathie bezeichnet. Bei einem schweren Sauerstoffmangel kommt es zum Verlust von Gehirnzellen und somit zu weitreichenden Schädigungen im Gehirn. Besonders im Kleinkindalter ist das Beinahe-Ertrinken ein häufiger Grund für einen hypoxischen Hirnschaden.

Gehirnfunktionen

Wachkoma kann unter anderem die Folge eines Schädel-Hirn-Traumas oder eines hypoxischen Hirnschadens sein. Eine solche schwere Hirnschädigung führt zu einem Ausfall der Funktion wesentlicher Teile des Großhirns. Dabei bleiben Funktionen tieferer Hirnregionen (Zwischenhirn, Hirnstamm und Rückenmark) und mit ihnen lebenserhaltende Funktionen wie Atmung, Kreislauf und Stoffwechsel sowie eine minimale Motorik häufig erhalten. Die Funktionen des Großhirns hingegen – das sind etwa Bewusstsein, Denken, Lernen, Sprechen, Wahrnehmung und Gedächtnis – sind stark eingeschränkt.

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Aufgrund der schweren Hirnschädigung ist der Betroffene im Akutstadium tief komatös und muss beatmet werden. Beim Erwachen aus dem tiefen akuten Koma zeigen sich dann 3 bis 4 Wochen nach dem schädigenden Ereignis folgende charakteristische Symptome des Wachkomas (Multi Society Task Force on PVS 1994):

  • Spontanatmung, Herz-Kreislauf-Tätigkeit ohne lebenserhaltende Apparate, vegetative Dysregulation mit erhöhtem Blutdruck, erhöhter Herz- und Atemfrequenz, Schweißausbrüchen und vermehrtem Speichelfluss
  • Erschöpfungs- oder tageszeitlicher Schlaf-Wach-Rhythmus
  • Geöffnete Augen während Wachphasen, der Blick geht jedoch anfänglich ins Leere oder wandert ohne zu fixieren
  • Keine von außen sichtbaren sinnvollen Reaktionen auf Berührung oder Ansprache, kein Befolgen von Aufforderungen, keine von außen erkennbaren emotionalen Reaktionen bei Besuchen von Angehörigen
  • Keine von außen erkennbaren zielgerichteten Bewegungen oder absichtsvollen Versuche der Kontaktaufnahme
  • Erhaltene motorische Primitivreaktionen und Schablonen wie Schmatz- und Kaubewegungen (orale Automatismen)
  • Erhöhter Muskeltonus mit zunehmender Spastik und Gefahr von Gelenkfehlstellungen, Kontrakturen und Wundliegen (Dekubitus)

Auszug aus „Wachkoma - eine medizinische Einführung“ von Andreas Zieger in „Wachkoma – Betreuung, Pflege und Förderung eines Menschen im Wachkoma“ von Peter Nydahl, Seite 8