Schwere erworbene Hirnschädigungen und Wachkoma

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Entwicklung und Verlauf

Liebevolle und angenehme zwischenmenschliche Begegnungen und gezielte Erfahrungen können zu einer positiven Entwicklung beitragen.

„Man kann sich den Zustand so vorstellen, als ob im Gehirn dichter Nebel herrscht und Informationen weder verarbeitet noch verstanden werden. Vielleicht aber ist es möglich, dass in einem solchen Zustand wieder viel ursprünglicher wahrgenommen und empfunden wird, vielleicht wie bei einem ungeborenen Kind, das nur Bewegungen, Geräusche und Stimmen erlebt, ohne diese in Sprache übersetzen zu können.

Es ist möglich, dass das ‚Un-Bewußte‘ Botschaften aus dieser Zeit aufnimmt, die wie Samen aufgehen und wirksam werden und die vielleicht den Prozess des Aufwachens beeinflussen können. So ist es gut, dem Kind ermutigende oder beruhigende ‚Nachrichten zu senden‘, ihm zum Beispiel zu sagen, dass man es lieb hat, dass man da ist, dass man auf es achtet, bis es aufwacht und ähnliches mehr.“

Aus „Schädel-Hirn-Verletzungen bei Kindern und Jugend­lichen“ von Christiane Gérard, Christian G. Lipinski und Wolfgang Decker, Seite 62

Wenn die medizinischen, pflegerischen und therapeutischen Behandlungen und die Bemühungen von Angehörigen Erfolg haben, können erste Schritte der Entwicklung entstehen. Die Entwicklung innerhalb eines Wachkomas oder aus einem Wachkoma heraus nennt man Remission. Zuvor haben wir beschrieben, dass eine Einschätzung bei diesem Krankheitsbild regelmäßig erneut erfolgen muss, da es sich um einen vorübergehenden Zustand handeln kann und die Entwicklung und die Fortschritte genauestens beobachtet werden müssen. Hierbei spielen die Beobachtungen und Einschätzungen der Fachkräfte sowie der Angehörigen eine sehr wichtige Rolle.

„Ein interdisziplinäres Team ist nicht nur für eine qualifizierte Versorgung notwendig, sondern stellt auch das beste ‚Messinstrument‘ für die Beobachtung und Beurteilung des Entwicklungsverlaufes der subtilen Körpersignale, Bedürfnisse und Willensäußerungen dar. Beobachtungen der Pflegenden haben wegen der 24-Stunden-Präsenz und Kenntnis der Vorlieben und Lebensgewohnheiten des Kranken ein entscheidendes Gewicht.“

 Aus „Palliative Care bei Menschen im Wachkoma“ von Andreas Zieger in „Palliative Care – Praxis, Weiterbildung, Studium“ von Susanne Kränzle, Ulrike Schmid und Christa Seeger, Seite 337

Remissionsskalen

Zum Zwecke der Einschätzung sind im Laufe der letzten Jahrzehnte verschiedene Skalen und Messmethoden entwickelt worden. Sie beinhalten stets eine Benennung von Phasen oder Merkmalen und deren Abgrenzung voneinander sowie eine methodische Herangehensweise, um bestimmte Merkmale zu erfassen. Hier werden dann zum Teil noch weitere medizinische Instrumente eingesetzt, wie z. B. EEG, EKG oder fMRT.

Prof. Dr. Dr. hc. Gerstenbrand hat bereits 1967 eine wichtige Grundlage mit der Entwicklung von 7 Remissionsstufen gelegt. Hierbei hat er schon früh eine Perspektive auf die Fähigkeiten eingenommen und sich nicht an Defiziten orientiert. 

Er beschreibt das Koma als erste Reaktion des Körpers auf das schwere Ereignis. Das Wachkoma folgt als Remissionsstufe (also als erste Entwicklungsstufe aus dem Koma heraus). Entweder endet ein Wachkoma abrupt und schnell (überwiegend sehr früh nach dem Ereignis, später nur in wenigen Einzelfällen) oder es folgen in der weiteren Entwicklung verschiedenartige Symptome und Besonderheiten, die für einzelne Entwicklungsphasen typisch sind. 

Zunächst werden erste steuerbare Reaktionen beschrieben, wie Fixieren mit den Augen, später auch Blickfolgen und Kopfdrehungen. Bei einem günstigen Verlauf folgen komplexere Handlungen wie Nachgreifen sowie emotionale Reaktionen. 

Im späteren Verlauf einer Regeneration nach einer schweren Hirnverletzung werden u.a. Symptome in Verbindung mit der höheren Hirnleistung sichtbar, wie übersteigertes und impulsives Verhalten, ungezielter Objektgebrauch und Veränderungen von Persönlichkeit und Verhalten.

Ob eine vollständige Wiederherstellung oder ein neues Erlernen der alten Fähigkeiten im Einzelfall möglich ist, lässt sich nur schwer voraussagen und wird von verschiedenen Faktoren beeinflusst (näher ausgeführt im Kapitel Prognose). Ein längeres Andauern oder auch letztendlicher Stillstand der Remission ist in jeder Phase möglich.

Die Stufen von Prof. Dr. Dr. hc. Gerstenbrand sind an dieser Stelle ausführlicher erwähnt, weil sie eine wichtige Grundlage für die Entwicklung weiterer Skalen und die Orientierung in der Behandlung von Menschen mit Hirnschädigung geliefert haben.

Beispiele für Remissionsskalen 
(nicht alle sind für Kinder und Jugendliche einsetzbar)

  • Basler Vegetative State Assessment (Bavesta)
  • Coma Recovery Scale (CRS)
  • Coma Recovery Scale – Revised (CRS-R)
  • Early Functional Ability Assessment (EFA)
  • Frühreha-Barthel-Index (FRB)
  • Functional Independence Measure (FIM)
  • Glasgow Coma Scale (GCS)
  • pädiatrische Glasgow Coma Scale (PGCS)
  • Remissionsprofil für Kinder nach schweren erworbenen Hirnschädigungen (RemiPro)
  • Skala Expressive Kommunikation und
  • Selbstaktualisierung (SEKS)
  • 7 Remissionsstufen nach Gerstenbrand

Diese Modelle sind nicht starr zu verstehen, sondern sollen eine Orientierung im Genesungsverlauf bieten.

In den letzten Jahren wird außerdem zunehmend der Begriff „Zustand minimalen Bewusstseins“ verwendet (engl. minimally conscious state). Er ist als eine frühe Zwischenstufe der Remission zu verstehen. Darunter versteht man einen Zustand schwererer Bewusstseinsbeeinträchtigung, bei dem minimale, jedoch eindeutige Merkmale eines bewussten Erlebens oder Wahrnehmens des Selbst und der Umwelt beim Betroffenen vorhanden sind. 

Es muss sicher nachgewiesen sein, dass die Patientin oder der Patient gelegentlich zielgerichtete Reaktionen auf äußere Reize (zum Beispiel Töne, Berührungen) oder sogar Gefühlsäußerungen zeigt.